Abschlussbericht
Daniela Meyer

Euro am Sonntag, München
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Vom Gefühl, aus China nach Deutschland zurückzukehren


Seit ich aus China zurück bin, trage ich nachts einen Schlafanzug mit einem Bild von Winnie Pooh. Das ist dieser dicke gelbe Bär von Walt Disney, der immer mit seinen Freunden – einem pinkfarbenen Ferkel und einem sehr dämlichen Esel – rumhängt. Noch vor drei Monaten hätte ich lieber eingewickelt in einen Kartoffelsack geschlafen, als einen so albernen Pyjama anzuziehen.
Und hätte ich gewusst, dass es in China ausschließlich mit Herzchen und kleinen Tieren bedruckte Schlafanzüge gibt, hätte ich natürlich ein solideres Modell von zu Hause mitgebracht. Da ich das nicht getan hatte, kaufte ich in einem winzigen, mit Bettwäsche und Nachthemden vollgestopften Laden in der Shanghaier Altstadt absichtlich den aller buntesten. Wenn schon, denn schon.

Eigentlich wollte ich ihn ja vor meiner Rückreise nach Deutschland wegschmeißen. Aber es ging nicht. Aus der gleichen Sentimentalität hängt auch immer noch ein fürchterlich hässlicher Handyanhänger in Form eines chinesischen Holzschuhs an meinem Telefon. Er klappert, baumelt beim Sprechen vorm Gesicht und nervt wirklich sehr. Aber: Meine Kollegin Cao Li hat ihn mir geschenkt. Denn in China haben alle Mädchen so ein kitschiges Gebimsel am Handy – auch die erwachsenen.

Es bedarf keiner langen Analyse um festzustellen: Ich vermisse China. Ein Land, das man nicht einfach nur OK finden kann. Man hasst es oder man liebt es. Man will immer wieder hin oder nie mehr.
Mir fehlen vor allem die Menschen – von meiner alten Nachbarin, die zur Entspannung jeden Morgen in eben einem dieser knallbunten Pyjamas rückwärts die Straße entlang lief, bis hin zu den Freunden und Kollegen, die ich dort kennen lernen konnte.

Als ich jetzt – nach drei Monaten Peking und Shanghai – in Berlin aus dem Flugzeug stieg, war mein erster Gedanke: Wo sind denn alle Menschen hin? Fünf Minuten zuvor hatte ich mir noch mit meinen chinesischen Sitznachbarn ein Wettrempeln durch die engen Gänge der Boing geliefert. Zu dritt hatten wir uns samt 37 Tüten und Kartons, die Chinesen gerne als Handgepäck mitnehmen, gleichzeitig aus der Flugzeugtür gequetscht. Körperkontakt par excellence.
Und nun stand ich mutterseelenallein vor dem Flughafen. Nur eine Politesse, die Falschparker aufschrieb, schob sich an mir vorbei. „Müssense dit Riesending (gemeint war mein Koffer) hier mitten innen Weg stellen. Da kommt ja keener mehr vorbei, wa“, motzte sie. Na, herzlich Willkommen!

Auf dem Weg vom Flughafen nach Hause zählte ich auf zehn Kilometern Wegstrecke etwa 20 Menschen auf der Straße – davon mindestens fünf mit Rollator. Im Autoradio lief ein Song, den ich nicht kannte. Laut Moderator der meistgespielte des Jahres. Begründung: Er lädt die Leute einfach dazu ein, mal wieder Spaß zu haben, ihre Sorgen zu vergessen.
Welche Sorgen das waren erfuhr ich drei Minuten später in den Nachrichten. „Wirtschaftskrise sehr schlimm … Arbeitslosigkeit wird steigen … Banken brauchen Rettungsfonds …“ Um Himmels Willen, ich hatte ja keine Ahnung!

„Krise, welche Krise?“ hatte ich drei Monate lang gehört. Meine Kollegen bei der China Daily, Chinas größter englischsprachiger Tageszeitung, veröffentlichten eine Positivmeldung nach der nächsten. Zugegebenermaßen wurden die negativen in den oberen Entscheidungsetagen oftmals einfach ignoriert.
Jeden Artikel den meine Kollegen und ich verfassten, mussten wir per Email an eine zentrale Stelle nach Peking schicken. Dort wurde der Text dann „gepolished – poliert“, wie es hieß. Es kam nicht selten vor, dass sogar Zitate mit negativen Aussagen verändert oder einfach gelöscht wurden. War ein Bericht insgesamt zu kritisch, hatte er kaum eine Chance den Weg ins Blatt zu finden.

Es stimmt also, Zensur ist in China Realität. Während meiner Arbeit für die China Daily habe ich das am eigenen Leib erfahren. Realität ist aber auch, dass eine leise aber stetige Entwicklung stattfindet. Denn die Einschränkung der eigenen journalistischen Arbeit ärgerte nicht nur mich. Viele chinesische Kollegen klagten über geänderte Überschriften, Schwierigkeiten bei der Recherche oder spannende Geschichten, die nie gedruckt wurden.
Die täglich erlebte Einmischung sorgte derweil weniger für allgemeines Stillhalten, sondern schürte vielmehr den Wunsch, die von der Regierung vorgegebenen Grenzen in der Berichterstattung Stück für Stück weiter auszureizen.

Erste Erfolge sind vielleicht bereits erkennbar. Immerhin ist es mittlerweile möglich, punktuell Kritik zu äußern. Ein bestimmter Politiker ist korrupt, eine namentlich genannte Firma hat Gift in einen Fluss gekippt, eine Gruppe von Polizisten hat einen Unschuldigen verprügelt. Das sind Geschichten, die man auch in der China Daily lesen kann, die sich aber stets nur auf den genannten Einzelfall beziehen. Nie ist es das gesamte System, das Schuld an Korruption hat oder es möglich macht, Bewohner eines Altenheims gegen ihren Willen umzusiedeln. Noch vor ein paar Jahren, wäre aber selbst das nicht möglich gewesen, erzählten mir meine chinesischen Kollegen.

Sie glauben fest daran, dass die Möglichkeiten der Berichterstattung langsam aber sicher vielfältiger werden. Sie träumen von Presse- und Meinungsfreiheit, wie wir sie in Europa haben. Aber sie hoffen keinesfalls auf eine vollständige Verwestlichung ihrer Medienlandschaft. „Wir haben unser eigenes System, ein chinesisches – sowohl in Politik und Kultur als auch in der Art, wie wir Nachrichten aufschreiben und Geschichten erzählen“, erklärte mir ein Kollege, „wir wollen das westliche System auch gar nicht. Es passt nicht zu China. Wir werden langsam unsere eigene Demokratie und Freiheit entwickeln. Das kann Jahrzehnte dauern. Und sie kann ganz anders aussehen als in Europa, muss aber deshalb nicht schlechter sein.“

Ähnliche Aussagen habe ich während der drei Monate in Peking und Shanghai noch oft gehört. Und sie gehören wohl zu einer der wichtigsten Erkenntnisse, die ich aus China mit nach Deutschland nehme. Die Chinesen sind stolz auf ihre Heimat. Sie sehen selbst großen Handlungsbedarf und sind durchaus offen gegenüber Kritik. Aber: Sie wollen sich nicht mehr bevormunden lassen. Sie haben es satt, dass in westlichen Medien größtenteils negativ über ihr Land berichtet wird.

Denn trotz der Teilverbannung schlechter Nachrichten, sind die positiven – über die wieder anziehende Wirtschaft, die boomende Autoindustrie und den unaufhaltsamen Konsumrausch der Chinesen – ja nicht erfunden. Es gibt sie massenhaft. Und egal ob meine chinesischen Kollegen die eigene Medienlandschaft kritisierten, sich mehr Freiheiten beim Recherchieren und Schreiben wünschten oder nicht: Sie glaubten alle fest an die schnelle Erholung ihres Landes.
„Das ist eine große Chance für China in der Welt mehr Mitspracherecht zu erlangen“, erzählten mir sowohl Experten im Interview als auch Freunde beim Essen. Das eigentliche Wunder dabei aber ist: Ich, eine deutsche Meckerliese, glaube jetzt auch daran. Bin ich deswegen naiv? Habe ich mich einer Hirnwäsche unterzogen und es nicht gemerkt? Nein.

Ich habe – ungeachtet aller wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Probleme, die China als Emerging Market unbestritten hat – eine Aufbruchstimmung gespürt. Eine positive Energie, die echt und nicht staatlich verordnet ist. Genau wie die Freude, die man während der Olympischen Spiele 2008 in Peking erleben konnte. Damals hatten Kritiker behauptet, der Stolz der Chinesen auf ihr Land sei oktroyiert. Meine Wahrnehmung war und ist eine andere.

“Warum lasst ihr euch im Westen eigentlich so hängen”, hat mich meine chinesische Freundin Ying Ying kurz vor meinem Abflug gefragt. Ja warum eigentlich? Warum begreifen nicht auch wir die Krise als Chance?
Für die meisten Chinesen geht es gefühlt jedes Jahr ein Stück bergauf. Daher blicken sie so optimistisch in die Zukunft. Für uns im Westen geht es derweil subjektiv betrachtet stetig bergab. Die Wirtschaftskrise, die in China eine ganze Nation in Bewegung versetzt, führt bei uns zu Pessimismus und Erstarren. Und nicht zuletzt zu einer Flut von Untergangsmeldungen, die unsere Medienlandschaft täglich pflastern.

Besonders deswegen fehlt mir das chinesische Gewusel. Die Menschenmassen, die sich auf der Straße, in der U-Bahn, im Einkaufscenter drängen. Die lauten Stimmen, das Geschnatter. Die Dynamik, die man körperlich spüren kann. Sogar die Unart der Chinesen, sich nie in einer Reihe anzustellen, vermisse ich irgendwie.

Letzte Woche habe ich mich deshalb beim Bäcker an der Ecke mal vorgedrängelt. Der Sturm der Empörung, den ich damit auslöste, war heftiger als erwartet. „Unverschämtheit!“ Und: „Stellen Sie sich gefälligst hinten an.“ Dass ich erst ganz zum Schluss dran war und das allerallerallerkleinste Croissant bekam, muss ich wohl nicht extra erwähnen. Aber: Es hat riesen Spaß gemacht. Nächstes Mal werde ich in meinem Winnie-Pooh-Schlafanzug zum Brötchenholen gehen – und zwar rückwärts!

 

Links zu journalistischen Texten von Daniela Meyer (Deutsch): 

Kopf der Woche: Samantha Ho - Arbeitslosigkeit ist die größte Sorge (€uro am Sonntag, 17.10.09)

Porträt: Jenny Lou – Von der Marktfrau zur Millionärin (€uro am Sonntag, 07.11.09)

Interview: VW-China-Chef Winfried Vahland: „Das Wachstum in diesem Jahr ist ungesund“ ((€uro am Sonntag, 28.11.09)

Feature: Bambusboom im Bauernstaat (€uro am Sonntag, 19.12.09)

Interview: Asian-Bamboo-CEO Lin Zuojun - Wir verdoppeln unsere Größe alle drei Jahre (€uro am Sonntag, 19.12.09)

Kopf der Woche: EU-Botschafter Serge Abou - Wir sind erst am Beginn des Aufstiegs Chinas (€uro am Sonntag, 19.12.09)

 

Links zu journalistischen Texten von Daniela Meyer (Englisch):

Sense of extravagance ties Young Americans together (China Daily, 17.10.09)

Shanghai youth: Let's get personal (China Daily, 12.11.09)

Obama brings fortune to some in city (China Daily, 16.11.09)

Demand for bamboo grows as wood substitute and food (China Daily, 16.11.09)

Stage set for West to impress Chinese (China Daily, 18.12.09)


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